Andere Länder, andere Krabbelviecher.
Die Sorgen Singapurs möchte man haben.
Der Reihe nach: ich kann natürlich nicht sagen, daß ich seine Tat gutheiße. Ich kann auch nicht sagen, daß die Dokumente aus seinem Nachlaß das Bild eines großartig erinnerungswürdigen, außerordentlichen Menschen zeichnen: zu pubertär, egozentrisch und, tja, selbstmitleidig scheint das meiste dessen, das man da lesen und sehen kann. Hinzu kommt eine Verwirrung höheren Grades, die vor allem aus seinem Abschiedsbrief spricht. Aber die ist verständlich, finde ich – wegen mangelnder "Altersweisheit" (Erfahrungen, Distanz zum Erlebten, eine gewisse Abgeklärtheit, die meist aus diesen resultiert); aber natürlich auch wegen der akuten emotionalen Erregtheit, in der der Brief wohl verfaßt wurde.
Ganz davon abgesehen, finde ich jedoch auch seine Tat als solche irgendwo verständlich. (Ja, das erschreckt mich teilweise selbst. Nein, das ist nicht als Aufforderung zur Nachahmung zu verstehen.) Liegt vermutlich daran, daß ich den Mobbing-Hintergrund, die Auswirkungen jahrelanger Demütigung durch Mitschüler und vermeintliche Freunde ganz gut nachvollziehen kann, den man in Bastians Fall wohl als gegeben nehmen kann.
Auszug aus seinem Livejournal.
Spekulationen oder gar Diskussionen um die Gründe, warum Bastians Erlebnisse in einer solchen Entwicklung münden mußten, führen an dieser Stelle zu weit. Eine gewisse Empathie ist meiner Meinung nach aber in jedem Fall verständlich, wenn nicht sogar wünschenswert: schließlich ist niemandem damit geholfen, ihn und seine Tat als kranken Einzelfall abzutun. Für den niemand etwas kann. Der sich, wortwörtlich, von selbst erledigt hat. Aus dem man bloß keine persönlichen Konsequenzen ziehen sollte, wie es die BILD allen Ernstes formuliert:
Liebe Schüler der Geschwister-Scholl-Schule, (...) Ihr seid ohne Schuld. Was Ihr getan habt ist alltäglich, nebensächlich, verzeihlich, unschuldig. Es ist das ganz normale Leben in einer Schule. Der Wahnsinnige in Eurer Schule ist für mich krank. Ihr seid für mich gesund. Bleibt gesund.
Und tatsächlich findet sich in den Weiten des Internets neben stammtischseligen, verkürzenden Verdammern sowie pubertierenden, verkürzenden Verfechtern der Tat eine beständig wachsende Zahl an Menschen, die echtes Interesse an den Hintergründen zeigt. Und ernsthaft bestrebt scheint, etwas gegen das gesellschaftliche Klima zu unternehmen, das Bastians Reaktion zumindest begünstigt hat. Allein das ist enorm viel wert, denke ich. Und es bleibt zu hoffen, daß mit der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Geschehnisse nicht auch ihre Aktivität wieder abflauen wird.
Aber noch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt könnte das versuchte School-Shooting sein Gutes gehabt haben – so pervers das klingen mag. Wie bereits erwähnt, haben öffentliche wie private Meinungsmacher im Fall ResistantX eine seltsame Informationspolitik an den Tag gelegt. Die zur Folge hatte, daß zunächst nur entscheidend verfremdete bzw. unvollständige Versionen von Bastians Hinterlassenschaften publik gemacht wurden. Mit teils nur allzu leicht zu durchschauenden Motiven.
Das aber hat sich die Net-Community so nicht bieten lassen. Alles verfügbare Material wurde und wird gesammelt, Texte werden gespiegelt, Video- und Bilddateien von den unterschiedlichsten Privatpersonen wieder online gestellt. Nun kann einem gewissen Teil dieser Menschen sicherlich auch eine beträchtliche Skandal-Geilheit als Antriebsfeder unterstellt werden. Das ändert aber nichts daran, daß in meinen Augen hier das Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit bewußt verteidigt bzw., naja, erkämpft wird – siehe auch hierzu KeinMensch.de.
Und das, um es mal ganz simpel auf den Punkt zu bringen, freut mich. Und macht Mut.
Keine Sorge – das war es dann fürs Erste, was dieses Thema in meinem Blog angeht. Danke fürs ausdauernde Lesen.
Und diesen gegelten Spacko nur ein paar Minuten sehen, ihm zuhören zu müssen... das läßt automatisch Bilder im Kopf entstehen, wie er und seine Kumpels sich gegenüber jemandem wie Bastian wohl verhalten haben. (Nein, ich meine nicht den Typen, der beim stern tv-Artikel abgebildet ist. Der war auch da und hat sogar viel mehr erzählt. Aber der wirkte nur doof, nicht bullyhaft.)
Nun werden solche Bullies also in Talkshows eingeladen, weil sich ihr Name angeblich auf Bastians "Todesliste" fand. Und weil sie somit "Opfer" sind, fragt man sie besorgt nach ihrer emotionalen Lage. Und ob sie denn Angst hätten, die Armen. Was sie bejahen.
... und ich werde den Eindruck nicht los, daß hier irgendwie die Rollen massiv vertauscht werden. Aus Tätern werden Opfer, und die "Experten" geben auch noch ihren Senf hinzu. Scheiß-Spiel.
Wir rekapitulieren: ein 18jähriger "Loser" (wertneutral gemeint) kommt nicht mehr mit dem Leben und all seinen Frustrationen klar. Ist zu oft verletzt worden, sieht keine Hoffnung mehr, erkennt auch grundlegend keinen Sinn in seiner Existenz.
Er entschließt sich zum drastischen Schritt, für immer zu gehen, und dabei noch ein paar Leute mitzunehmen - die er für sich als Schuldige oder zumindest Teil-Verantwortliche definiert hat.
Als Kind der Gegenwart spielte sich sein Leben vor der Tat zu einem guten Teil auch im Internet ab. Natürlich hat "ResistantX" also, wie fast alle vergleichbaren Individuen, eine deutliche Spur im Netz hinterlassen. In gewissen Ausmaßen sogar bewußt: er nutzte seine Homepage, um einen Abschiedsbrief an alle zu hinterlassen.
Diese Homepage ist längst gesperrt, es gibt aber diverse Mirrors der Seite (unter anderem bei www.keinmensch.de, weitere ggf. auf Anfrage).
Der Abschiedsbrief ist interessant; hinterläßt inhaltlich einen zwiespältigen Eindruck, aber gespalten war die Person des Verfassers wohl auch. Fast noch interessanter sind jedoch die Reaktionen der Öffentlichkeit. Hiermit meine ich nicht die erwartbaren Reflexe der offiziellen Meinungsmehrheit hierzulande (Thema "Killerspiele" und Co.), auch nicht die der Netznutzermasse (teils heroisierend, teils beleidigend dem Täter/Opfer gegenüber).
Spannend sind vielmehr die Verhaltensweisen der "betroffenen Protagonisten" im "betroffenen Medium", also v.a. der Webmaster, Hoster und Forenmoderatoren im Internet selbst.
Wie erwähnt, seine Seite ging sofort offline. myVideo.de beweist sich als nicht ernstzunehmen und löschte seine Clips - was dazu führt, daß nun nur noch die "offiziellen" Medien Ausschnitte zeigen, sich aber niemand da draußen noch selbst ein Bild machen kann. Seine bevorzugte Airsoft-Community versperrt den Zugang zu seinen Beiträgen. Genauso das Chemikerforum, wo er dreist zu den Chancen des Bombenbaus per Düngemittel fragte. Und das nicht zu Unrecht vorübergehend im peinlichen Licht der Öffentlichkeit stehende "Beratungsnetz" löscht kurzerhand den Beitrag, in dem er schon vor über zwei Jahren ganz offensichtlich, öffentlich um Hilfe rief (zur aktuellen Diskussion über die Löschung: das-beratungsnetz.de).
Platte Zensurvorwürfe sind meine Sache ja normalerweise nicht, ebensowenig wie sonstige Schwarz-Weiß-Erklärungsmuster. Und sicher hat jeder einzelne der Verantwortlichen seine individuellen Gründe zur Sperrung/Löschung der, hm, "Beweismittel".
Diese Häufung hinterläßt allerdings doch ganz einfach einen negativen Beigeschmack. Ist das Internet auch in Version 2.0 immer noch nicht reif genug, um mit sich, seinen Protagonisten, seinen Zusammenhängen und vielleicht ja sogar seinen Folgen umzugehen?
Toll, jetzt sind die "Killerspiele" nicht mehr nur schuld, jetzt bekommen sie auch noch echt killende Namen.
Besonders gruslig, irgendwie: im Portal der "German Airsoft Community" war er erst gestern Nacht zuletzt online: GAC-portal.de
Death is round the Corner. Oder so ;)
Den speziellen Nerd-Preis gibt es aber für sein ICQ-Profil und seine generelle Lobpreisung von "Anarchie". Und dann den Columbine-Neonazis huldigen, iss klar.
Edit: Holla die Waldfee, richtig gruslig ist dann mal das hier: das-beratungsnetz.de. Eine Beratungsseite zum Thema psychische Probleme, wo er schon vor über zwei Jahren schrieb, daß er in sich einen "Blutrausch" verspürt. Ach so, der Spiegel-Artikel trägt inzwischen einen anderen Namen. Warum auch immer.
Mit Peinlichkeiten kennt sich mein derzeitiger Arbeitgeber ja ohnehin bestens aus, also konnte man da nun auch so richtig gezielt auf die Kacke hauen...
...und so begab es sich, daß heute mittag die gesamte Belegschaft dazu verdonnert wurde, sich vor der Alten Oper im Stadtzentrum zu versammeln, kecke Nikolausmützen aufzusetzen und eine frech und lustig (ha, ha) umgetextete Version von "We are the World" zu gröhlen.
Dieses erniedrigende Ereignis wurde gefilmt, daraus wird nun ein aber echt mal crazy Video zusammengeschnitten. Und das geht dann samt kreativem Spendenaufruf (Afrika, iss klar) an all unsere Kunden und den Rest der Menschheit raus.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir eine Pilotenbrille gewünscht. Oder eine Tauchermaske, mein Gott.